Beim Ackern


Ende April 1946, in die guten Stuben sind die Kolonisten eingezogen, mit ihnen teilen wir unsere Häuser. Feld, Vieh, Arbeitsgeräte, Handwerksbetriebe sind enteignet, wir sind der Zivilrechte beraubt; die Arbeitsfähigen sind nach Russland verschleppt, ehemalige Soldaten in Kriegsgefangenschaft. Wer von ihnen und von den nach Russland Deportierten noch lebt, ist ungewiss. Wir sind am Tiefpunkt unserer Geschichte.

  • Kulturarbeit -  Malerei von Stefan Jäger
  • Josef Hubert (445) 1924 mit seinem Ackerpflug Hannomag

Zigeuner Matzi ist auf dem Heimweg nach Knees. Der groß gewachsene Mann geht zügigen Schrittes, seine Frau, die ein kleines Kind auf dem Arm trägt, hastet ihm hinterher.
Matzi steuert auf den Durchgang zwischen dem Sauerländerfriedhof und der letzten Häuserreihe auf die „Kleine Flur“ zu, als ihm beim Vorbeigehen am Haus unseres Nachbarn, Vetter Sepp, der Geruch von frisch­gebackenem Brot in die Nase schlug. Zwei schöne Laib Brot, unten weiß, die Mitte braun und die Oberhälfte schwarz glänzend, lagen auf der Brustmauer im Hof.
Matzi blieb stehen, Appetit kam auf. Er rief nach Vetter Sepp und bat um ein Stückchen Brot für sein Kind. Vetter Sepp meinte, nun sei doch Matzi selbst Bauer und bettle dennoch Brot von einem Besitzlosen.
Ein Wort ergab das andere, Matzi war als ehemaliger Kämpfer in der rumänischen Armee tatsächlich beeignet worden und bot Vetter Sepp ein Stück Feld zur Pacht an. Das Feld befand sich laut Matzis Beschreibung in den „Kneeser Wissen“, gleich hinter der Brücke rechts.
Vetter Sepp kannte das Flurstück. Man einigte sich darauf, dass die Pacht nach der Ernte „in natura“ bezahlt wird, allerdings musste Vetter Sepp einen Vorschuss in Geld leisten, dazu einen Laib Brot, ein gutes Stück Speck und eine halbe Flasche Schnaps.
Ein weiteres Stück Speck und eine Flasche Schnaps sollte Matzi bei der Übergabe des Flurstücks erhalten. Es wurde ausgemacht, dass man sich am übernächsten Morgen an der „Kneeser-Wissen-Brück“ trifft und Matzi das ihm als Besitz zugeeignete Flurstück Vetter Sepp übergibt. Handelseinig trennte man sich.

Vetter Sepp hatte nominell den Postmeister als Kolonist einquartiert. Dieser hatte die ihm von der Requirierungskommission zugeeigneten Pferde, zwei „Füchse“, und sein sonstiges Agrarinventar bei Vetter Sepp untergestellt, wohnte aber weiter im Postmeisterhaus.
Bauer wollte der Postmeister nicht werden, er wusste, dass man als Feldbesitzer noch lange kein Bauer ist. Das eine Pferd hat er bald verkauft. Der zweite „Fuchs“ hatte einen Klumpfuß, er blieb bei Vetter Sepp.

Wir hatten ein kleines emsiges Pferd gekauft, das ebenfalls nominell einem Rumänen gehörte. Angesprochen, beteiligten wir uns gerne an der Pacht und Bearbeitung des Flurstücks.
Zusammen mit Vetter Sepp trugen Jakob, Vetter Sepps Enkel, und ich alles zusammen, was zum Ackern benötigt wurde, auch eine geschärfte Pflugschar hatten wir bei Nachbarn gefunden.
Versuchsweise wurden Pflugkarren und Pflug zusammengebaut und - soweit möglich - die Einstellungen vorgenommen.
Auch Mitzi, unsere kleine Stute, und Nelu, den Klumpfuß, haben wir probeweise zusammengespannt. Die Probe klappte.

Am festgesetzten Tag fuhren wir schon früh los und waren lange vor der ausgemachten Zeit am Treffpunkt. Matzi war, wie befürchtet, nicht da.
Nun begann ein banges Warten.
Gegen halb acht kam Hans Müller vorbei, der unterwegs war nach Knees. Müller hatte dort Bekannte in der Gemeinde- und Bezirksführung, er wollte Neuig­keiten über die politische Entwicklung erfahren.
Zu Vetter Sepp meinte er, Matzi würde wahrscheinlich nicht kommen und außerdem sei die Agrarreform und Feldaufteilung noch nicht abgeschlossen, da würde sich noch einiges ändern. Müller zog weiter Richtung Knees und wir warteten weiter auf Matzi.
Nach etwa einer halben Stunde erschien dieser aber tatsächlich. Er zeigte uns die eingeschlagenen Pflöcke, die das ihm zugeteilte Feldstück auf einer Seite begrenzten, die anderen drei Seiten mündeten in Uferwiesen des Jerbaches, der hier in einem Bogen vorbeifloss.
Vetter Sepp stellte noch fest, dass es sich bei der nutzbaren Fläche höchstens um ein dreiviertel Joch handelte, die Vermesser hatten Matzi reingelegt.

Wegen den Kriegsereignissen und der A­­grar­­­reform sind die Felder im Herbst 1944 und während des Jahres 1945 nicht bestellt worden. Auf dem brachen Acker standen verdorrte Maisstängel und meterho­hes verdorrtes Unkraut, dies mussten wir zu­nächst mit der Kettenschleife umbrechen und mehrmals drüberfahren, um es zu verkleinern.
Als Vetter Sepp dann den Pflug ansetzte, klappte es noch nicht. Mehrmals musste er nachstellen, die Ketten zum Pflugkarren umhängen und die Auflage des Pflugbaumes verstellen, bis Zug und Sohle den Pflug in gleichmäßiger Tiefe bei gleicher Furchenbreite führten. Wir mussten dabei unter Anleitung von Vetter Sepp mithelfen.
Vetter Sepp war klein von Wuchs, hatte aber, wie alle Bauern, kräftige Arme und große Hände, mit denen er die Pflughörner fest führte. Wir Buben durften uns beim Führen der Pferde abwechseln.
Mittag war gut vorbei, als Hans Müller von Knees zurückkam. Er rief Vetter Sepp zu: „Kannscht nohlosse, das Feld geft nomol verteelt, dir werd do ke Kukruz fechse“. Müller sagte, er habe dies von einem Freund des Präfekten in Knees gehört, die Landwirtschaft würde nach russischem Muster organisiert.
Vetter Sepp hörte ihm ruhig zu und sagte dann: „Wescht Hans, Vattr es keene do, ke Mottr aa net. Ich senn nor Bauer, ich leer die zwaa ackre, das kann niks schaade.“

Müller ging seines Weges, wir ackerten wei­ter. Nun durfte ich den Pflug führen, Vetter Sepp achtete darauf, dass die Furchen gerade wurden.
Längst war das Wendbrett poliert und glänzte silbern in der Nachmittagssonne. Dunkelschwarz glänzend legten sich die Furchen gleichmäßig aufeinander, der besondere Geruch der frisch gepflügten Erde vermengte sich mit dem frischen Frühlingswind.
Die Sonne stand schon tief im Westen, als wir die letzte Längsfurche zogen, doch fertig waren wir noch nicht. Noch zehn Querfurchen mussten an jedem Ende des Ackers gezogen werden.
Uns reichte es, wir waren müde und wollten heim. Vetter Sepp ließ sich Zeit, er betrachtete das Tagwerk, als wäre es ein Kunstwerk. Gemächlich nahm er neben uns Platz auf dem Wagensitz und griff nach den Zügeln.
Es dunkelte schon, als wir die Anhöhe bei den Bergwingerten hochfuhren, es war kühl geworden und wir froren, Hunger hatten wir auch. Vetter Sepp aber saß ohne Jacke neben uns, war gut gelaunt. Mir schien es, als sänge er ganz leise ein Lied, nur für sich.

Nachtrag: Wir haben dort noch Mais gesetzt und gehackt, aber keinen geerntet. Doch diesen Ackertag habe ich nie vergessen.
Viel später, als ich bei Martin Luther den Satz las: „Auch wenn ich wüsste, dass morgen die Welt untergeht, würde ich heute einen Apfelbaum pflanzen“, verstand ich Vetter Sepp und seine Lektion vollkommen.



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