Gegen das Vergessen - 70 Jahre seit der Russlanddeportation
Historisch-politische Hintergründe
Das Jahr 1945 bedeutete nicht nur das
Ende des 2. Weltkrieges, sondern auch den Beginn des Leidensweges der Deutschen in Ost- und Mitteleuropa. Nach Angaben der „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ wurden mehr als 350.000 deutsche Zivilisten zum Arbeitseinsatz in die Sowjetunion verschleppt. Betroffen waren alle Rumäniendeutschen, die Deutschen aus Ungarn, der Tschechoslowakei, Jugoslawien und die aus den deutschen Gebieten östlich von Oder und Neiße.
Von den Verschleppten waren 130.000 Deutsche aus Südosteuropa. Aus Rumänien wurden 75.000 in die sowjetischen Arbeitslager deportiert. Nach den Aussagen des stellvertretenden sowjetischen Außenministers, J. W. Maisky, waren für die Deportation „Kriegsverbrecher“ und „aktive Nazis“ zur „Wiedergutmachung, Bestrafung und Umerziehung der Deutschen“ vorgesehen.
Tatsächlich wurden weitgehend Männer und Frauen, die keine direkte Verantwortung für den Krieg trugen, deportiert. Die Deportation war eine systematisch betriebene Aktion, die von der obersten sowjetischen Führung geplant und in allen deutschen Ostgebieten in gleicher Weise gehandhabt wurde.
Die Alliierten hatten auf der Konferenz in Jalta (4.-11. Februar 1945) den sogenannten „Reparationsleistungen“ („reparations in kind“) an die Sowjetunion zugestimmt. Dieser Begriff schloss außer Lieferungen Deutschlands aus der laufenden Produktion und den Demontagen deutscher Industrieanlagen auch die Verwendung deutscher Arbeitskräfte ein.
Es war eine verschleierte Abmachung über Verschleppung, für die der britische Premier Winston Churchill und der US-amerikanische Präsident Franklin Roosevelt mitverantwortlich sind, da sie ihr zugestimmt haben. Sie legitimierten dadurch nachträglich die zum Großteil abgeschlossene Verschleppungsaktion in Rumänien, Ungarn und Jugoslawien und die laufende Deportation in Polen, Ostbrandenburg, Schlesien, Pommern, Ost- und Westpreußen.
Warum die Sowjets nach Beendigung des Krieges die geplanten Massendeportationen in den besetzten Gebieten Deutschlands und Österreichs nicht fortgesetzt haben, ist nicht geklärt. Sie haben sich lediglich mit 26.000 Facharbeitern begnügt.
Vorgeschichte der Deportation in Rumänien
Am 23. August 1944 beendet König Michael I, ein Hohenzollernprinz, völlig unerwartet sein Waffenbündnis mit dem nationalsozialistischen Deutschland. Die königliche Palastgarde verhaftet Marschall Antonescu, Hitlers treuesten Verbündeten. Rumänien kämpft an der Seite der Alliierten weiter bis zur endgültigen Kapitulation Deutschlands. Die Sowjets überfluten das Land.
Als die Deportation in Gang gesetzt wurde, war Rumänien aus Sicht der Alliierten ein „besetztes Land“. So schrieb Winston Churchill am 19. Januar an das Foreign Office (das britische Außenministerium): „Wir dürfen nicht vergessen, dass wir versprochen haben, das Schicksal Rumäniens in der Hand der Russen zu belassen“.
Infolge der von Winston Churchill und dem Sowjetdiktator Josef Stalin getroffenen und von den Amerikanern akzeptierten Vereinbarung war Rumänien 1945 Bestandteil des sowjetischen Imperiums. Die rumänische Regierung stand also praktisch allein da, ohne jegliche Unterstützung seitens der Alliierten.
Es muss auch in Betracht gezogen werden, dass im Januar 1945 der Krieg noch voll im Gange war, und dass sowjetische Truppen auf dem gesamten Territorium Rumäniens stationiert waren. Die rumänische Regierung wurde vom sowjetischen Deportationsbefehl völlig überrascht.
Erst am 6. Januar erfuhr die Regierung von General Nicolae Radescu – die letzte nichtkommunistische Regierung Rumäniens - offiziell von den Plänen der Sowjets.
Am 16. Januar hat Premierminister Radescu eine Protestnote an General Vinogradov, den stellvertretenden Vorsitzenden der Alliierten Kontrollkommission, geschickt. In dieser Protestnote wies Nicolae Radescu auf „die Pflicht der rumänischen Regierung, die Interessen aller ihrer Untertanen ungeachtet ihrer ethnischen Abstammung zu schützen“ hin. Die Protestnote blieb allerdings ohne Erfolg.
Schon unmittelbar nach der rumänischen Kapitulation am 23. August 1944 war gelegentlich von einer bevorstehenden Deportation der Volksdeutschen die Rede. Es fanden allerorts Registrierungen der Deutschen statt. Neben anderen Reparationsleistungen forderte Stalin angeblich 100.000 rumänische Staatsbürger als freiwillige Arbeitskräfte für den Wiederaufbau seines Landes.
Gegen Ende des Jahres verstärkten sich die Gerüchte über eine bevorstehende Verschleppung. Ende Dezember 1944 gingen einige Transporte mit Volksdeutschen aus Jugoslawien zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion. Die Verschleppung der Deutschen im Sathmar-Gebiet (im Nordwesten Rumäniens) begann schon am 2. und 3. Januar 1945.
Am 10. und 11. Januar ist die Aktion in Siebenbürgen und Bukarest angelaufen. Die Deportation verlief nach einem sorgfältig vorbereiteten Plan seitens der rumänischen Behörden in enger Zusammenarbeit mit den sowjetischen Besatzern.
Die Ortseingänge wurden von Militär und Polizei abgeriegelt. Der Telefon-, Telegraf- und Eisenbahnverkehr wurde lahmgelegt. Es wurden Listen mit den Betroffenen erstellt. Gemischte rumänisch-sowjetische Patrouillen gingen von Haus zu Haus, um die Betroffenen auszuheben.
Manche versuchten sich zu verstecken, doch die Drohung, Eltern oder Verwandte als Geiseln zu verhaften, zwang so manchen, sich freiwillig zu stellen. Die politische Haltung des Einzelnen spielte bei der Aushebung keine Rolle. Es reichte, Deutscher zu sein. So wurden selbst aktive deutsche Kommunisten oder Deutsche, die in der rumänischen Armee dienten, ausgehoben.
Als die Aktion nach mehreren Wochen abgeschlossen war, waren 75.000 Volksdeutsche aus Rumänien deportiert.
Die Deportation im Banat bzw. in Billed
Am 14. Januar, es war ein Sonntag, zog das Militär mit Listen von Haus zu Haus und forderte alle Männer im Alter von 17 bis 45 und alle Frauen im Alter von 18 bis 35 Jahren auf, sich in der Schule zu versammeln. Übergriffe nach oben oder nach unten waren nicht selten. Nur Frauen mit Säuglingen unter einem Jahr blieben zu Hause.
Die Ausgehobenen wurden angewiesen, Lebensmittel für 14 Tage und Kleidung mitzubringen. Wohin es gehen soll, erfuhren sie nicht.
Am nächsten Tag ging es zu Fuß in das 20 km entfernte Perjamosch. Das Gepäck wurde mit Wagen nachgebracht. Hier wurden die zu Verschleppenden wieder für ein paar Tage in der Schule einquartiert, bis die Transporte zusammengestellt waren.
Je 30 Leute, Männer und Frauen, kamen in einen Viehwaggon, versehen mit Pritschen und einem Ofen. Für sonstige menschliche Bedürfnisse war ein Loch in den Boden gesägt.
Als alles verladen war, wurden die Türen von außen verriegelt und der Zug setzte sich in Bewegung in Richtung Temeswar, wo zum ersten Mal gehalten wurde. Danach ging es in Richtung Siebenbürgen weiter bis nach Iasi.
Unterwegs wurde in regelmäßigen Abständen angehalten, um Wasser nachzufüllen. In Iasi fand die Verladung in russische breitspurige Waggons statt. Noch immer wusste niemand, wohin es ging. Ab da waren 50-60 Leute in einem Waggon.
Unsere Billeder Landsleute wurden vorwiegend in Arbeitslager in die südliche Ukraine gebracht, nach Stalino, Jenakjewo, Dnjepropetrowsk, Slowjansk und Tschasowjar. Aus unserer Heimatgemeinde wurden 556 Personen in die Sowjetunion zwangsverschleppt. Schon auf der Hinreise verstarben unsere Landsleute Franz Slavik, Josef Lauth und Hans Bohn.
Am Bestimmungsort angekommen, ging es zu Fuß ins Lager. Das Gepäck wurde transportiert. Danach wurden die Zimmer zugeteilt.
Es waren etwa 40 Leute in einem Zimmer, versehen mit Etagen-Eisenbetten und einem gemauerten Ofen. In Jenakjewo schliefen je 2 Frauen in einem Bett, in Stalino gab es keine Strohsäcke und es wurde auf dem Brettergestell geschlafen. Die Pritsche war Schlafstelle und Sitzgelegenheit zugleich. Sie diente auch als Tisch.
Die Pritsche war das einzige, was man sein eigen nennen konnte. Die unteren Schlafstellen waren am bequemsten. Um in die oberen Betten zu gelangen, musste man hinauf klettern. Dafür waren sie im Winter wärmer.
Nach der Zuteilung der Zimmer ging es zu der Entlausung. Jeder musste seinen Beruf angeben und wurde einer Arbeit zugeteilt. Das Lager war von Stacheldraht umzäunt und über die vier Wachtürme ständig bewacht.
Zur Arbeit ging es in Marschkolonnen unter militärischer Bewachung. Die Arbeit fand unter schwersten Bedingungen statt, bei bis zu -40°C: auf dem Bau, in der Fabrik oder in der Kohlengrube.
Am 9. Mai 1945 kam der Natschalnik (Aufseher) in der Früh und verkündete: „Dewotschki, wojna kaputt! Skoro pajedete domoj.“ (Mädchen, der Krieg ist zu Ende! Bald geht es nach Hause.) Doch es sollten noch viereinhalb Jahre verstreichen, bis dies in Erfüllung ging.
Im Dezember 1946 ging der erste Krankentransport nach Hause. Erst dadurch erfuhren die Daheimgebliebenen, wohin ihre Angehörigen verschleppt worden waren und wie es ihnen ging.
Das Essen war von einer erschreckenden Eintönigkeit: morgens Tee mit der Brotration für den ganzen Tag, mittags Krautsuppe mit Kascha (Grütze) und abends wieder Krautsuppe. Tagaus, tagein Kohl. Wenn man ein Stück Kartoffeln in der Suppe fand, so war das eine Sondermeldung.
Einziges Essbesteck war der Löffel. Für das Essen wurden monatlich Essensmarken ausgegeben. Der Handel mit den Essensmarken entwickelte sich zu einer regelrechten Börse. Für den Erlös kaufte man sich auf dem Markt andere Lebensmittel, um seine Ernährung abwechslungsreicher zu gestalten.
Ein viel begehrter Artikel war Zucker. Meistens gab man dafür Brot oder Essensmarken.
Die Brotration war verschieden und hing von der Schwere der Arbeit ab. Die normale Ration war 700 g, Schwerarbeiter erhielten 1.000 g, für Kolchosarbeit gab es 500 g. Das Brot war schlecht, zäh und nie richtig durchgebacken.
Die hygienischen Bedingungen waren katastrophal. Es wimmelte nur so von Ungeziefer: Läuse, Wanzen, Flöhe. Wasser und Seife waren Mangelware.
Einmal pro Woche ging es ins Dampfbad zur Entlausung. Es wimmelte überall von Wanzen. Die Wand war übersät mit diesen ekelhaften Biestern. Am Tag hielten sie sich verborgen, aber sobald es dunkel wurde, krochen sie zu Hunderten aus ihrem Versteck hervor. Sich ihrer zu erwehren, war praktisch zwecklos. Sie quälten einen bis zum Morgengrauen.
Die seelischen Qualen waren das Schlimmste. Die Ungewissheit machte das Leid fast unerträglich.
Hätte man gewusst, wie lange man bleiben musste, hätte man sich innerlich darauf einstellen können. Aber man wusste nicht einmal, ob man überhaupt noch einmal nach Hause kommen würde.
Ab und zu kam ein Brief von zu Hause. So ein Brief bildete dann tage- und wochenlang das Gesprächsthema im Lager. Endlich wusste man, wie es den Daheimgebliebenen ging.
Wie viel Ungewissheit und Zweifel konnten diese Briefe zerstreuen, wie viel Licht und Hoffnung in ungezählte Herzen pflanzen!
Der Tod war ein ständiger Begleiter im Lager. Immer wieder kam es vor, dass ein Kamerad starb. Die Sterbeziffer stieg ständig an. Die meisten starben wegen der Unterernährung an Wassersucht und Typhus.
Etwa 15 % der Russlanddeportierten starben während der Deportation. Von Billed haben 76 Personen ihr Leben in den sowjetischen Arbeitslagern verloren. Ihnen zu Ehren wurde vor der Billeder Kirche eine Gedenktafel errichtet, in der die Namen aller in Russland Verstorbenen eingemeißelt sind.
Späte Rehabilitation
Am 16. Oktober 1990 fasste die rumänische Regierung den Beschluss, dem Parlament einen Gesetzesentwurf zur Entschädigung jener Personen, die unter der kommunistischen Diktatur verfolgt oder deportiert wurden, vorzulegen.
In der Begründung hieß es: „Nach dem 23. August wurde eine große Anzahl rumänischer Staatsbürger deutscher Nationalität zur Zwangsarbeit in die UdSSR deportiert. Die Deportation erfolgte willkürlich, allein auf der Basis der Zugehörigkeit zur deutschen Minderheit (…).
Diese diskriminierende, widerrechtliche Maßnahme aufgrund ausschließlich ethnischer Kriterien löste den Prozess der Auswanderung der Deutschen aus (…).“
Aufgrund dieses Gesetzentwurfes wurde das Dekret Nr. 118 im Jahre 1990 erlassen, durch welches die Jahre der Zwangsarbeit und die der Deportation als Dienstjahre bei der Berechnung der Rente angerechnet werden, wobei jedes Haft- und Internierungsjahr als ein Jahr und sechs Monate Dienstzeit zählt.
Am 1. Mai 1997 hat sich der damalige rumänische Außenminister Adrian Severin bei dem deutschen Außenminister Klaus Kinkel für das Unrecht, das der deutschen Bevölkerung während der kommunistischen Diktatur zugefügt worden ist, entschuldigt.
In dieser Erklärung verurteilte er sowohl das den Deutschen zugefügte Leid in der Nachkriegszeit wie die Verschleppung der Deutschen zur Zwangsarbeit in sowjetische Arbeitslager und die Deportation der Banater Schwaben in die Baragan-Steppe, wie auch den entwürdigenden Tauschhandel in den 70er und 80er Jahren, als erhebliche Finanzleistungen bei der Familienzusammenführung der ausreisewilligen Deutschen gefordert wurden, das so genannte „Kopfgeld“.
Dabei verurteilte er zutiefst diese traumatischen Praktiken und sprach seine Entschuldigung für das Geschehene aus „als eine Geste der moralischen Wiedergutmachung an jenen Bürgern Deutschlands, die früher Bürger unseres Landes waren, deren Schicksal von solchen verdammenswerten Taten bleibend geprägt ist.“
Diese von dem Außenminister abgegebene und schon längst fällige Erklärung wurde von den Betroffenen mit Genugtuung aufgenommen, kann jedoch das Geschehene nicht ungeschehen machen.
Danksagung, Quellen
Mit der Deportation nach Russland wurde ich schon in meiner Kindheit konfrontiert. Meine Mutter, Elisabeth Hehn, geborene Mann, wurde als 18-Jährige nach Jenakjewo deportiert, wo sie fünf Jahre verbrachte.
Zeitlebens hat sie dieses traumatische Erlebnis aufzuarbeiten versucht, indem sie ständig und immer wieder darüber sprach. Ohne es zu ahnen, hat sie uns Kindern dadurch ein enormes Wissen an gelebter Geschichte unserer Volksgruppe vermittelt, ein Reichtum, den wir erst heute so richtig zu schätzen wissen. Deshalb möchte ich mich an dieser Stelle bei ihr dafür bedanken. Ohne ihre ausführlichen Schilderungen wäre dieser Beitrag nie zu Stande gekommen.
Weitere Quellen:
„Deportiert und repatriiert: Aufzeichnungen und Erinnerungen 1945-1947, von Daniel Bayer“, München 2000, Verlag Südostdeutsches Kulturwerk
„Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“, Band III, „Das Schicksal der Deutschen in Rumänien“
„Deportation der Südostdeutschen in die Sowjetunion 1945-1949“, München 1999, Haus des Deutschen Ostens
„Billed, Chronik einer Heidegemeinde im Banat“ von Franz Klein, Wien 1980
„Über uns der blaue endlose Himmel“, von Wilhelm Weber, München 1998
„Donbass-Sklaven. Verschleppte Deutsche erinnern sich“, von Günter Czernetzky, 1992 ARD
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