Billed mit den Augen eines Siebenbürgers
Ankunft im Banat
Es war Abend geworden. Der Bahnhof von Temeswar (Temeschburg) war Mitte September 1967 in ein herbstlich goldenes Licht gehüllt, so als wenn der Tag sich noch nicht verabschieden wollte.
Nach einer langen, anstrengenden Zugfahrt von Siebenbürgen ins Banat musste sich ein Jungakademiker im Wartesaal eine Nacht um die Ohren schlagen - Bahnhofssäle in den Oststaaten waren zu jener Zeit geräumig, jedoch nicht frei von Plagegeistern wie Stubenfliegen, Stechmücken und Zecken - um dann am nächsten Tag mit einem Lokalzug in Richtung Billed, einer ländlichen Ortschaft, weiter zu reisen.
Man kriegte kein Auge zu, aber irgendwie wurde es dann doch Morgen.
Maulbeerbäume, Maisstängel, Rübenblätter, Teiche, Maisstängel, Sonnenblumen, Teiche auf offener, weiter Ebene so weit das Auge reicht und an den Rändern vorbeiflitzender Ortschaften zahlreiche Gänse - sowie Entenscharen, die eifrig Grashalme zählten! Das war also ein Teil der Banater Heide - weit zurück lagen die Siebenbürger Berge und Wälder.
Die Ortschaft Billed (damals rund 4800 Einwohner, davon etwa 3000 Banater Schwaben) hatte schon lange Anschluss an das Bahnnetz gefunden, und der Junglehrer (Professor wurde man nach einem Universitätsstudium in Rumänien genannt!) entstieg unbeholfen dem Zug mit seinem Gepäck in der Hand. Ein alter Roma, Besitzer einer Pferdedroschke, witterte die Chance des Tages und fuhr den Ankömmling samt dessen Habseligkeiten für ein gutes Trinkgeld vor das Hauptgebäude der Schule.
Der Unterricht hatte seit einigen Tagen begonnen und, wie es sich zeigte, musste für den Neuankömmling, der das Recht erworben hatte, die Fächer Geschichte und Geographie an der deutschen Abteilung zu lehren, in aller Eile der Stundenplan der Schule überarbeitet werden. Man „beglückte“ ihn zusätzlich „für’s Erste“ mit der Klassenführung einer der rumänischen Kolonistenklassen, was für ihn eine Enttäuschung war. Wer waren aber die deutschen Lehrerkollegen der ersten Stunde, die freundlich aber mit fragenden Blicken den Zugereisten empfingen?
Lehrerkollegen der ersten Stunde
PETER THOMA: stellvertretender Direktor (Konrektor), der das Hauptfach Mathematik unterrichtete und außerdienstlich stolzer Besitzer eines Pkw war. (Lehrer waren damals im Prinzip aber fast alle unmotorisiert, da sie einerseits sehr schlecht entlohnt und andererseits die Benziner sehr teuer waren!) Oft breitete der Chef verstohlen eine Landkarte aus und suchte die Stadt Hannover. Warum schon damals Deutschland und warum gerade Hannover?
ELVIRA SLAVIK: alleinstehend und für das Fach Biologie und Landwirtschaft zuständig. Immer genau und pflichtbewusst. Als dann irgendwann die Schule die von oben diktatorisch eingeführte Seidenraupenzucht - unentgeltlich natürlich - betreiben musste, und unsere Schüler an den Nachmittagen auf die alten Maulbeerbäume kletterten, um Blätterfraß für die zahlreichen, ewig hungrigen Raupen zu holen, waren auch die Lehrer gefordert. So bestand die Biologielehrerin kategorisch darauf, dass man auch an Sonntagen von Temeswar aus - dort waren einige unserer Kollegen sesshaft - aufs Land kam, um Schüler und Seidenraupen streng zu beaufsichtigen.
MARIA Jobba (später verheiratete SCHALJO): unterrichtete Mathematik, in der ersten Zeit vor allem Physik; Gutmütigkeit, Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft zierten ihr Wesen. Irgendwann wurde sie aber zu einem roten Parteimitglied der diktatorischen Einheitspartei des Landes gekürt und wenig später, gegen ihren Willen, auch in die Funktion einer „Parteisekretärin“ der Schule befördert - was für uns nicht nachvollziehbar war.
HANS PIERRE: wirkte durch und durch wie ein Modellathlet. Der Sportlehrer besaß ein sprühendes Temperament und trainierte auch die Handballmannschaft des Ortes. Er las gerne Sportzeitungen und verfolgte im Fernsehen die Übertragung der meisten Fußballspiele. Nach einer unerhofften Niederlage der deutschen Nationalmannschaft in Bukarest hängten ihm ortsansässige Rumänen aus Jux in einer dunklen Nacht eine großflächige Trauerfahne aufs Gassentor.
ELISABETH MARTINI: unterrichtete nicht nur die Muttersprache an deutschen Klassen, sondern auch an einigen rumänischen Klassen Deutsch als Fremdsprache. Studenten aus Temeswar leisteten später bei ihr ein eigenes Schulpraktikum ab. Sie war sportlich - Mens sana in corpore sano - und wusste sich auch hübsch zu machen. So nahm sie samstags vor der Heimfahrt in die Stadt einen jeweiligen Termin im Damenfriseurladen wahr. Dort wurde man dann zusätzlich mit den letzten Dorfneuigkeiten versorgt. Information ist alles!
FRANZ TRENDLER: war ebenfalls Deutschlehrer, sehr belesen, gescheit und beliebt, jedoch alleinstehend. Mit ihm erlebte ich an einem Wochenende einen unvergessenen Ausflug mit seinem Motorrad zu einem der zahlreichen Fischweiher in der Umgebung des Ortes. Damals dämmerte es mir, warum der unweit (ungarisch Csatad, später Lenauheim) geborene Dichter Nikolaus Lenau (1802-1850) so beseelte Schilflieder schreiben konnte:
Drüben geht die Sonne scheiden,Franz Trendler liebte die Historie und daneben auch eine Flasche guten Wein. (Hat nicht auch der große Goethe einen edlen Tropfen zu schätzen gewusst?)
und der müde Tag entschlief.
Niederhangen hier die Weiden
in den Teich, so still, so tief...
(Schilflieder 1)
So soll der Kollege einmal unter dem Einfluss der einfallenden Sonnenstrahlen in der Klasse eingenickt sein und voller Rücksicht störte ihn niemand dabei, wie man sich das unter der Hand erzählte.
Teilweise war er auch für die Fremdsprache Russisch verantwortlich und musste deshalb eines Vormittags eine erkrankte Kollegin vertreten.
Um den entsprechenden Einstieg in den Unterricht zu finden (Motivationsphase!), zeigte er mit ausgestrecktem rechten Arm auf die Handuhr einer Schülerin und rief dann dröhnend: „Dawai ceas!“ Noch am gleichen Nachmittag verbreitete sich im Ort das Gerücht, der Lehrer hätte behauptet, die Rotarmisten seien am Ende des Weltkrieges vor allem auf Uhren spitz gewesen, denn der verwendete Ausdruck heiße: „Gib her die Uhr!“
„Der hat wahrscheinlich die Überfahrt verpasst, der Herr Professor!“, lästerte eines Tages schmunzelnd mein Vermieter Johann Mann, im Ort als Vetter Hans bekannt. Was er damit meinte? Franz Trendler war eben ledig - und ein unverheirateter Mann genoss damals in einer konservativen Heidegemeinde kein besonders hohes Ansehen.
Stübchen beim Vetter Hans
Der Junglehrer hatte bei dem bejahrten „Vetter Hans“ aus der Kirchgasse ein Stübchen mit einem Eisenbett, einem Holzofen, einem Tisch, zwei festen Stühlen und einem schmalen Einbauschrank - unweit der beiden Schulhäuser - gemietet und musste dann am Morgen nicht weit die Beine vorwärts bewegen, um an Ort und Stelle zu sein, was der Hausbesitzer bei Gelegenheit als großen Vorteil für den Mieter hervorhob.
Von „Vetter Hans“ konnte man an freien Nachmittagen zusätzlich einiges aus der Lokalgeschichte und der Volkskunde erfahren.
So mussten die Banater Schwaben als Folge des II. Weltkrieges die Vertreibung nach Russland (1945) erdulden - wie die Siebenbürger Sachsen auch! - und einige Jahre später hat man sie und andere Völkerschaften aus einem 25 km breiten Grenzgebiet entlang der rumänisch - jugoslawischen Grenze in einer Nacht- und Nebelaktion (1951) mit brutaler Gewalt in die Baragan-Steppe, weit in den Süd - Osten Rumäniens, verschleppt. Aus Billed waren zuletzt 506 Personen deportiert worden, von denen dann bis zur Rückkehr (1956) insgesamt 59 verstorben sind, wie das mit genauen Zahlenangaben in einer wissenschaftlichen Dokumentation von Wilhelm Weber, dem ehemaligen Bibliothekar der Schule, zu lesen ist.
Im Übrigen war Johann Mann im Dorf als ein Original bekannt. Früher sei „Vetter Hans“ nur im Schneckentempo aufs Feld gefahren, so dass die Spatzen sich zwischendurch auf die Radspeichen gesetzt hätten, meinte ein Schlaumeier.
Auf die Frage, ob das wahr sei, bekam man prompt zur Antwort: „Jawohl, dann hatte ich ja auch weniger Schmiedegeld im Jahr für meine Wagenreifen zu zahlen!“
Sparsam und vorausdenkend war er also, wie die ausgesiedelten Banater Schwaben es auch heute noch sind. So konnte ich mir z.B. zur Winterzeit nicht erklären, warum auf dem Dachboden in aller Früh ein Glöckchenläuten erklang, bis man mich dann belehrte, der Hausherr steige eben früh aus dem Bett, um mit seiner Handglocke den Nagern (Mäusen!) den Garaus zu machen, die an den dort gelagerten Maiskolben sich Genüge leisteten.
Wenn aber - wie auf den anderen Bauernhöfen auch - die Schweineschlacht auf dem Plan stand und anschließend erstmalig von dem gebratenen Fleisch, der Leber, der Wurst usw. gekostet werden sollte, zeigte der Gastgeber sein großes Herz.
Er trottete um die Mittagszeit in Richtung Schulhaus, klopfte lautstark an jede Klassentür an und rief mit unüberhörbarer Stimme: „Wo zum Teufel steckt er? Er soll doch schnell zum Kesselfleisch kommen - morgen gibt es sowieso nichts mehr!“
(Die Lehrkräfte nahmen das Mittagessen für gewöhnlich in der Schulkantine ein.)
Bei dieser Gelegenheit stellte ein Kollege fest, dass „Vetter Hans“ die Pelzkappe verkehrt auf seinem grauen Haupte trug - den inneren Teil nach außen gekehrt! - und nicht aus reinem Zufall. Wahrscheinlich schützte er seine Mütze während der Werktage auf diese Art vor schädlichen Umwelteinflüssen, und nur an Sonn - und Feiertagen ließ sich „Vetter Hans“ seine dunkle Pelzkappe in Originalform von den Nachbarn bewundern.
Aus dem Dorfleben
Ließ der Winterfrost dann nach und zauberten Sträucher und Bäume ihre ersten grünen Blättchen hervor - gewöhnlich zwei Wochen früher als in Siebenbürgen - zeigten sich im Hofe, meist Mitte April, zwei junge Aprikosenbäume in voller Blüte. Die sich daraus entwickelnden Früchte mussten jedoch voll golden ausreifen, auch die beiden hübschen, in einer Nebenstraße wohnenden Enkelinnen durften vorher nicht davon naschen.
Eins der beiden Mädels führte Ende August (1968) mit seinem Partner den langen Kirchweihzug an, worauf „Vetter Hans“ von einigen Witwen der Kirchgasse, mit denen er allabendlich mehrere Runden Karten spielte, ein beglückendes Lob als Großvater dieser Vortänzerin einheimste. Dies in allen schwäbischen Dörfern traditionsreiche Brauchtumsfest war in seiner Vorbereitung, Aufmachung und Sehenswürdigkeit irgendwie nur mit dem in Siebenbürgen jährlich stattfindenden „Peter-und-Pauls-Tag“ (29. Juni) vergleichbar.
Die „Kerwei“ (Pfarrkirchweih) hatte sich im Laufe der Zeit, wie überall, zu einem Trachtenfest entwickelt, war jedoch Ende des 18. Jahrhunderts noch zu „Michaeli“ (Ende September) abgehalten worden, da nach zwei Jahren Bauzeit 1777 die römisch-katholische Kirche dem heiligen Erzengel Michael geweiht worden war.
Die Theresianische Ansiedlung der ersten Deutschen in „Billiet“ (Billed) war 1765-1766 erfolgt nach dem heute bekannten Motto:
Die Ersten hatten den Tod, die Zweiten die Not und erst die Dritten das Brot.Mit dem Strukturwandel in der II. Hälfte des 20. Jahrhunderts, als es dann im Dorfe keine selbständigen Bauern mehr gab, war aus Rücksicht auf den Beginn des Schul- oder Studienjahres die Dorfkirchweih, die schon einmal wegen anstehender Erntearbeiten auf den dritten Sonntag im Oktober platziert worden war, jetzt ein zweites Mal endgültig auf Ende August vorverlegt worden.
Die Schwerstarbeit bei der Vorbereitung des größten Brauchtumsfestes des Jahres hatten die Frauen zu leisten, da die meisten „Mannsleit“ täglich frühmorgens mit der Bahn zur Arbeit in die Stadt fuhren und erst am Spätnachmittag wieder zu Hause waren. So erspähte man auf den Straßen zahlreiche Frauen, die älteren Jahrgänge durchwegs nur mit dunklem Kopftuch und einem ellenlangen schwarzen Rock bekleidet, mit den Fahrrädern geschäftig hin und her fahren.
Aus dem neuen „Universalladen“ - dem Namen nach sollte dort käuflich alles zu erwerben sein - wollte man vor allem die notwendige Backhefe holen - wenn es welche gab. Also stellte man sich Ende der sechziger Jahre diszipliniert in Reih’ und Glied zu den an der Durchfahrtsstraße ebenfalls wartenden Menschen und harrte der Dinge (der Hefe), die es da geben sollte.
Zufällig stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite das massive Gebäude des Bürgermeisteramtes und an einem der zahlreichen Guckfenster das machtbesitzende „Dreigestirn“ der Großgemeinde: der Bürgermeister, der Partei- und der Polizeichef. Man war für die Warenauswahl im Laden und für die Backhefe selbstverständlich nicht zuständig, man fühlte sich aber für Billeds Ansehen verantwortlich. Wenn schon Warteschlange, dann nicht auf offener Straße, sondern im großflächigen Innenhof des Verkaufszentrums. Die Durchfahrtsstraße von Großsanktnikolaus nach Temeswar sollte ihr sauberes Gesicht bewahren. Basta! Das Problem war gelöst!
Andere Frauen hingen stundenlang mit langstieligen Malerbürsten - im Aussehen wie Rauchschwalben - an den Vorderfronten ihrer Häuser, um Giebel und Wand schön weiß zu kriegen - im Gegensatz zu den meist vielfarbigen Außenfronten siebenbürgischer Häuser, die nicht alljährlich ihr Gesicht mit frischer Farbe verjüngen konnten.
Am Stichtag strömten dann von nah und fern die geladenen Gäste in Richtung Billed - Viel Gäst’, viel Ehr! - und jeder erwartete seine Besucher mit einem reichhaltigen Mittagessen und erlesenen Getränken. An solchen Festtagen zeigte sich der Banater Schwabe keinesfalls knauserig - er legte seine Seele frei, führte den Besucher durch Haus und Keller und gab alles von Herzen gern.
Aus dem Schulbetrieb
Anfang September begann für Schüler und Lehrer der Ernst des Lebens, nicht dass man sich logischerweise in den Unterrichtsstoff vertieft hätte, nein, die Parteiführung des Landes sorgte dafür, dass man 2-4 Wochen lang auf den weiten Feldern vorerst frische Luft schnappte und eine „landwirtschaftliche Praxis“ ausübte.
Mit dem Wandel auf dem Lande waren die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (Kollektivwirtschaften) gegründet worden, die aber an chronischem Arbeitskräftemangel litten. Also verrichteten während der Erntezeit bestimmte Tätigkeiten nur die Schulkinder, wie das Maislieschen, Kartoffelneinsammeln, die Tomatenernte usw. - und dies für ein Dankeschön. (Eigentlich unbezahlte Kinderarbeit!)
Geriet man mit dem vorgesehenen Arbeitspensum in Verzögerung, konnte schnell und willkürlich die Hauptschuld den Lehrern zugeschoben werden.
So erschienen eines Tages der bekannte Parteiaktivist Nikolaus Berwanger, der deutsche Bürgermeister des Ortes und der immer sauer dreinblickende rumänische Parteiboss von Billed und lasen in einer „Arbeitssitzung“ allen deutschen und rumänischen Lehrkräften lautstark die Leviten. Das Merkwürdige an der Sache war, dass die Obrigkeit insgeheim wusste, dass die Lehrkräfte überhaupt keine Schuld an Ernteverzögerungen tragen konnten und wir die zu Unrecht erhobenen Beschuldigung als eine Absurdität erkannten.
Kurz zu Nikolaus Berwanger (1935-1989): Er war Banater Schwabe, einer sozialdemokratischen Tradition entstammend, von deren Werten zutiefst geprägt. 1969 zum Chefredakteur der „Neuen Banater Zeitung“ in Temeswar berufen, setzte er sich - innerlich überzeugt - für den Aufbau einer neuen Gesellschaftsordnung sowie für die Verteidigung seiner geographisch-sprachlichen Heimat ein. Für seine deutschen Landsleute, die sich beruflich und menschlich ungerecht behandelt fühlten, war er oft die letzte Anlaufstelle, und er half nicht selten, wenn dies in seiner Macht stand.
Doch er wurde zu einer „tragischen Gestalt“, da er erkennen musste, dass die Ideale des Sozialismus in seinem Vaterland missbraucht wurden.
So siedelte er 1984 Hals über Kopf zu seinem Sohn in die Bundesrepublik Deutschland aus, unternahm hier aber keinen Versuch, ein „Westgesicht“ aufzusetzen, wie das von einigen anderen Intellektuellen zu berichten wäre.
Wenn dann der erwartete Unterricht anlief, bestätigte sich die von Haus aus erfahrene gute Kinderstube, der sprichwörtliche Fleiß der deutschen Schüler sowie deren Freude an geistiger Arbeit, was von allen Lehrern dankbar honoriert wurde. Auch waren die Grundschullehrerinnen: Frau Beck, Frau Divo, Frau Mager, Frau Orner, Frau Pierre, Frau Weber usw. ihren Pflichten in den unteren Klassen gewissenhaft nachgekommen und hatten den Kindern Wissen und Fertigkeiten mitgegeben, auf denen dann in den weiterführenden Jahrgängen leicht aufgebaut werden konnte.
An allen Schuleinheiten des Landes, also auch in Billed, gab es damals eine einheitlich verordnete Uniformpflicht, die bei den Mädchen z.B. die Länge der Röcke und sogar die Breite und Farbe ihrer Haarbänder festschrieb, jedoch preisgünstig konnten die erforderlichen Bekleidungsstücke am Schuljahresanfang keinesfalls erworben werden.
Im Gegenteil! (In Deutschland erlebte ich dann, wie es ohne Uniformpflicht, jedoch mit abgetragenen, angerissenen Jeans ist, die als chic gelten!)
Stimmten aber andere Rahmenbedingungen wie Schulgebäude und Klasseneinrichtung, um mit Leib und Seele Schüler oder Lehrkraft in der Großgemeinde Billed zu sein?
In dem 1967 errichteten Schulbau sollte die Zentralheizung funktionstüchtig sein - und sie war es dann auch, wenn die winterlichen Temperaturen nicht allzu tief sanken und kein erhöhter Bedarf an Heizöl - damals als ein kostbares Gut des Landes betrachtet - da war.
Die Schüler saßen deshalb in „kühlen“ Stunden fest eingepackt da, während die in ihren Mantel eingehüllte „Professorin“ hin und her rauschte und zugleich ihr Wissen preis gab.
Hätte man dagegen nicht wenigstens einen leisen Protest wagen können? Die Lehrkräfte wagten auch dann keinen Protest, wenn sie unter dem Druck der Parteidiktatur abends für die Ortsbewohner im „Kulturheim“ (Kulturladen!) Aktivitäten zur Erziehung des „neuen Menschen“ starten mussten.
Unter Kollegen
Irgendwann wurde auch ein Chor aller Intellektuellen des Dorfes auf die Beine gestellt und nach einer Probezeit durfte man - der Erfolge harrend - wenigstens drei revolutionäre Lieder in Richtung Publikum schmettern.
Gesundheitliche Probleme der Chorsänger galten als ein Tabu, so auch die von Kollegin Luci, Zeichenlehrerin an allen Klassen, angemeldeten Zahnschmerzen, so dass diese mit einer festen Binde wie in „Max und Moritz“ zur Probe erschien. Ein Geheimnis jedoch blieb, warum die Schmerzen nur während der Chorproben auftraten.
Im Lehrersprechzimmer - wo sie als Künstlerin keine Schülerhefte zu korrigieren hatte - versuchte sie nach dem Vorbild der biblischen Eva, etliche Mannsbilder in Versuchung zu führen, in der Pause mit ihr doch schnell ein Rommeespiel auszutragen.
Am 1. März erhielten die Kolleginnen von den Schülern als Zeichen der Anhänglichkeit und der Freude an den ersten wärmenden Sonnenstrahlen „Märzchen“, kleine Anhänger in Form von Herzen, Sternchen, Kleeblättern usw., die sich diese an die Brust steckten. Am 8. März galt es dann, den in den sozialistischen Ländern genehmigten Frauentag „festlich“ zu begehen. Diesmal waren es meist Blumentöpfe, mehr oder weniger geschmackvoll eingepackte kleine Präsente, die den Weg zu allen Frauen fanden, „garniert“ - nach Unterrichtsschluss - mit einem festen Händedruck der Obrigkeit.
Jedoch der allbekannte Muttertag, der auf die Amerikanerin Ann Jarvis zurückgeht und seit rund hundert Jahren jeden zweiten Sonntag im Mai seine Verinnerlichung findet, war in der damaligen Öffentlichkeit nicht gefragt und konnte nur im engsten Familienkreis oder in der Kirche Erwähnung finden.
Waren Lehrerinnen damals nicht auch Mütter? Und wie wurden denn Väter geehrt? Der Vatertag war in den sechziger Jahren in Rumänien kein Begriff und so hielten sich die männlichen Kollegen lieber an dem am Ende jeden Schuljahres offiziell stattfindenden „Lehrertag“ schadlos.
Dabei waren es keinesfalls die verbindlichen Ansprachen und Hurra-Rufe, die interessierten, sondern eher das Fleischgericht (Fleisch wurde immer rarer!) und etliche nicht Alkohol freie Getränke, die man an diesem Tag mit besonderem Genuss schlürfte, aber selbstverständlich auch aus eigener Tasche finanzierte.
Man freute sich, das Schuljahr unbeschadet über die Runden gebracht zu haben - wie es überall auf der Welt der Fall ist - auch wenn die Ferienzeit der Schüler mit der eigenen Urlaubszeit nicht im Einklang stand. So mussten nach Schuljahresende zwei-drei Lehrkräfte mit etlichen Kindern, die man händeringend und bittend von zu Hause holte, auf den abgeernteten Weizenfeldern nach liegen gebliebenen Getreideähren suchen, um so einen kleinen Beitrag zum Aufbau des Landes zu leisten.
Für das „neue“ Vaterland waren schon Monate vorher, in den Winterferien, die in der Regel nach Weihnachten begannen, einige Kollegen tätig gewesen, als sie gewöhnlich mit je einem Ortsbewohner von Haus zu Haus pilgerten - natürlich auch am Tag der Heiligen Dreikönige - um den jeweiligen Viehbestand (Kühe, Pferde, Schafe, Schweine, Ziegen, Hühner, Gänse, Enten usw.) der Einzelwirtschaften genau in die vorbereiteten Druckbögen einzutragen, zu zentralisieren und dann allabendlich dem Bürgermeisteramt von der geleisteten Tagesarbeit Meldung zu machen.
Von einigen Bauersleuten wurde einem insgeheim hie und da ein Gläschen „Raki“ (Schnaps) mit dem freundlichen Hinweis angeboten: “Nehmet hin und trinket!...Ihr seid doch durch und durch erfroren!“ Und dann konnte es weiter heißen: „Hingle? (Hühner) Hingle haben wir keine! Ah doch! Schreibt drei oder vier auf, die anderen fünf sind ja schon längst krepiert!“
Bei den Dorfbewohnern war das Ansehen der deutschen Lehrkräfte hoch, vor allem wenn diese ihren Pflichten nachkamen, wollte man doch den eigenen Kindern eine bessere Zukunft sichern. Die Zeit, als durch Heirat „Feld zu Feld“ und „Geld zu Geld“ gegolten hatte, gehörte längst der Vergangenheit an.
Das setzte selbstverständlich einen guten Schulabschluss im Ort voraus, um anschließend in der Kreisstadt Temeswar eine entsprechende Ausbildung zu machen oder über die Mühen des bekannten „Lenau-Lyzeums“ (Gymnasium) zu einem Studienplatz an einer Uni zu gelangen.
So sorgten Eltern dafür, dass ihre Kinder vor allem im Hauptfach Mathematik zusätzliche Privatstunden bekamen, was einigen Kollegen ein kleines Zusatzbrot bescherte.
Deutschlehrer Franz Trendler gab bei einer sich bietenden Gelegenheit den Mathematikern seine philosophische Betrachtungsweise humorvoll preis: „Je teurer eine Privatstunde ist, umso mehr glaubt der Banater Schwabe an die Effizienz einer solchen Unterrichtseinheit. Also setze man die Taxe von Anfang nicht zu tief an. Lasst euch entsprechend gut bezahlen!“
Im Nachhinein
Im Nachhinein kann das damalige Arbeitsverhältnis der Lehrer (Professoren) untereinander als entsprechend gut bezeichnet werden, auch wenn die „eigenen“ Kollegen sich damit längst abgefunden hatten, dass nur die rumänischen Lehrkräfte in allen Fragen tonangebend und bestimmend waren und das - wie überall in der Republik - schon seit dem gesetzlich verankerten Zusammenschluss aller Schulen im Lande (1959).
Auch war es üblich, im gemeinsamen Lehrersprechzimmer Konversationen überwiegend rumänisch zu führen, um ja kein Misstrauen zu erregen oder schief angesehen zu werden. (Man hatte sich eben anzupassen!)
Erwähnenswert ist aber, dass anlässlich privater Familienereignisse mehr als ein Vertrauensfunke von einem zum andern sprang und beide Gruppen freundschaftlich miteinander verband: Als der rumänische Mathematiker Fumor D. T. sein Herz an eine romanische Schönheit aus Igrisch verloren hatte, wurden etliche Kollegen beider Abteilungen(!) zu seinem im orthodoxen Ritus stattfindenden Hochzeitsfest eingeladen.
Auch glaubte der stolze Bräutigam, allen zusätzliche Erläuterungen schuldig zu sein: „Bei uns Rumänen spielt in der Orthodoxie die kirchliche Zeremonie eine wichtige Rolle. Wundert euch also nicht, wenn mir der Pope in der Kirche eine glitzernde Krone einige Male auf- und dann wieder absetzt und mich auch dreimal den Altar umrunden lässt.
Auch soll der in Richtung Gotteshaus sich bewegende Hochzeitszug durch diverse laute und schrille Schreie auf sich aufmerksam machen - zugleich nehme jeder Hochzeitsgast des öfteren einen tiefen Schluck aus der mit bunten Bändern geschmückten und ihn begleitenden Weinflasche. Ist die Flasche leer, soll diese mit voller Wucht in Richtung des nächsten Haustores geworfen werden. Krachen muss es auf jeden Fall!“
Wie oft es tatsächlich gekracht hat, ist nach so vielen Jahren nicht mehr bekannt.
Ich entsinne mich auch, später mit einem Kollegen in Billed bei Familie Steiner Hochzeitsgast gewesen zu sein. In diesem Haus sollte alles seine deutsche Ordnung haben! So waren Herz- und Schmerzensschreie oder frenetische Freudensausbrüche daselbst nicht eingeplant, dafür gab es in den Abendstunden in einer auserlesenen Männerrunde mit Dr. Franz Haupt einen feinen Humor zu genießen, garniert mit den besten Witzen in Richtung Parteibürokratie des Landes. War dies damals nicht riskant?
1967 war ich also als Junglehrer mit leichten Zweifeln im Herzen in die Großgemeinde Billed angereist und habe in sechs abwechslungsreichen Schuljahren zahlreiche Eindrücke zusammen getragen und bin insgesamt um eine bedeutende Lebenserfahrung reicher geworden. So war hier nicht nur rund um das Kalenderjahr ein gepflegtes Brauchtum zu bewundern, sondern es waren vor allem Schüler und Eltern, die einem erwartungsvoll entgegenblickten und eine positive Zusammenarbeit geradezu herausforderten. Ist man diesen Erwartungen immer gerecht geworden?
Als ich dann später in der neuen Heimat Deutschland mehr als zwanzig Jahre lang Nürnberger Schüler, deren Erziehung und Mentalität vom „freiheitlichen Westen“ geprägt waren, unterrichten durfte und bei meiner Elevenschar nicht selten Intoleranz und Auseinandersetzungen zu beobachten waren, rief ich mir insgeheim die ehemals freundlichen und meist fleißigen Schüler von anno dazumal in Erinnerung.
Auch der Eltern von damals gedenke ich, die, wann immer, für jeden pädagogischen Hinweis ein offenes Ohr hatten und deren Bestreben es war, ihren Kindern neben der schulischen auch eine musische Ausbildung angedeihen zu lassen: So lernte z.B. in seiner Freizeit jeder zweite Schüler ein Musikinstrument spielen!
Parteibonzen und rumänische Machthaber haben mir viele Stunden und Tage meines jungen Lebens unwiderruflich gestohlen. Es ist aber keinem gelungen, mein helles Erinnerungsbild an Schüler, Eltern und Erzieher sowie an entschlafene Teichlandschaften der Banater Heide zu entzaubern. Und die Verehrung für den naturverbundenen Lyriker Nikolaus Lenau schon gar nicht, dessen Name im europäischen Zusammenleben von heute aktueller denn je sein sollte:
Wenn sich dann der Busch verdüstert, rauscht das Rohr geheimnisvoll. Und es klaget und es flüstert, dass ich weinen, weinen soll...
(Schilflieder 3)
Billed-Besuch im August 2003
Im August 2003, nach 28 Jahren Abwesenheit - bekanntlich stehen 30 Jahre für eine gesamte Generation - besuchten meine Frau und ich wieder das Banat und die Heidegemeinde Billed, wo wir bei Familie Adam Csonti freundliche Aufnahme fanden und die neuesten Informationen erhielten.
Auf gezielte Fragen nach ehemaligen Ortsbewohnern erfolgte meist die lapidare Antwort: „Verzogen!“, „Ausgewandert!“, „Verstorben!“
Von den einstmals zahlreichen Schülern der deutschen Klassen, jetzt Erwachsene im „besten Alter“, sind nur noch wenige im Ort, die dem Rest einer stark geschrumpften Gemeinschaft einen Zusammenhalt und ein Durchhaltevermögen sichern, vor allem die Brüder Adam und Erwin Csonti sowie eine der ehemaligen Klassenbesten Brunhilde Klein und ihr Mann Helmut. Sind das alle?
„Selbst eingesessene Rumänen haben ihre seelische Kraft verloren, seit ihre deutschen Nachbarn, mit denen sie so manches verband, in den Westen ausgewandert sind. Mit den Neuankömmlingen verstehen sie sich nicht, sprechen kaum mit ihnen und helfen sich gegenseitig wenig“, berichtet unser Gastgeber.
Sein jüngerer Bruder Erwin ist Landwirt geworden, hat sich mit seiner Frau durch Fleiß und mit Hilfe von auswärts (landwirtschaftliche Maschinen) eine solide Existenz aufgebaut. Rindvieh, zahlreiche Schweine, Schafe und Kleintiere werden täglich betreut, wobei ein Arbeitstag mehr als 12 Stunden hat und bei Bedarf werden spät am Abend für auswärtige Trachtenträger Hüte geschmückt bzw. Blumenkränze für lokale Beerdigungen gebunden. Mit Begeisterung spricht der Bauer von seinen Aktivitäten und vor allem von seinen Zukunftsvisionen. Am Ortsende in Richtung Knees wächst der eigene Kukuruz!
Brunhilde hat sich nach der politischen Wende gemeinsam mit ihrem Mann und mit Aufbauhilfe eine Konditorei eingerichtet und geht voll und ganz in ihrer Arbeit auf. „Man muss flexibel sein! Darum habe ich meinen Ingenieurberuf vorläufig an den Nagel hängen müssen“, erzählt sie.
Ist es eigentlich in Deutschland anders? Aber ahnt sie überhaupt, wie mich jetzt alte Schulbilder beeindrucken, die sie spät am Abend hervorkramt und die mich vor zirka drei Jahrzehnten, damals jung, inmitten meiner einstigen Schülerschar zeigen?
„Alle sind in den Westen gezogen, und nur die rote Diktatur nationaler Prägung war schuld daran“, werden wir am nächsten Tag von einem älteren Mann, Peter Trendler, in der Kirchgasse belehrt, dessen Tochter und Enkelin in einer neu gegründeten deutschen Firma in Temeswar Arbeit gefunden haben, deren Chefin, Erna Paler, geb. Weber, ebenfalls eine gewesene Schülerin von mir ist.
Peter Trendler ist Billed treu geblieben, wird von der gut funktionierenden Sozialstation des Ortes betreut, schmökert dort gerne in Büchern, spielt Karten und kennt nicht nur nebenbei die genaue Anzahl aller Storchenjungen, die in riesigen Nestern meist auf hohen Elektromasten unermüdlich klappern.
Mit Gastgeber Adam Csonti fahren wir in der Abenddämmerung fast alle Gassen der Ortschaft ab: Etliche Gebäude erkenne ich wieder, andere nicht, da von den jetzigen Besitzern seit langer Zeit kein reinigender Pinselstrich mehr aufgesetzt wurde.
Halt! Habe ich nicht da in diesem großflächigen Eckhaus seinerzeit eine mit viel Ausdauer angelegte Münzsammlung des Schulbibliothekars Wilhelm Weber bewundern dürfen? Wieso ist dieses Gebäude nun Eigentum der kirchlichen Orthodoxie des Ortes geworden? Ich werde belehrt und informiert.
Etwas später betreten wir dann in der Ortsmitte das Kirchenschiff der römisch-katholischen Kirche, zu der man noch vor Jahrzehnten als Lehrkraft keinen Zutritt hatte (Verbot) und sich deshalb schlecht und recht vorbei schleichen musste; besichtigen nachher auch die beiden gepflegten Friedhöfe sowie den außerhalb der Ortschaft renovierten „Kalvarienberg“ mit den 14 Leidensstationen Christi. Ob in der Tiefe dieses aus der Ferne sichtbaren Erdhügels vor vielen Jahrhunderten Fürsten oder auch einfache Krieger ihre letzte Ruhestätte fanden, ist bis heute noch nicht geklärt.
Seit eh und je sind die Billeder im christlichen Glauben verankert, und wenn die einstigen deutschen Einwohner den Weg aus der Ferne in den alten Heimatort finden, so ist es eine Selbstverständlichkeit, dass sie im Gotteshaus und auf dem Kalvarienberg weiterhin die Hilfe Gottes erbitten.
(BH 2003, 2004)
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