Kindheit in der Banater Heide
Hundert Jahre Banater und europäische Geschichte erlebt - von Peter Krier
Architekt Michael Wolf ist ein Billeder auf den wir stolz sind. Er entstammt mütterlicherseits der Sippe Thöress und wurde am 10. Januar 1901 in Billed geboren, wo er bis zu seinem zehnten Lebensjahr gelebt hat. Und er hat diese Zeit so erlebt, wie es die Älteren von uns noch in Erinnerung haben. In seinem Tagebuch beschreibt er seine Kindheit mit dem uneingeschränkten Treiben in Bauernhöfen und Gärten, auf der „Hutwet“, in der „Kaul“ und an der „Schließ“.
Väterlicherseits entstammt Michael Wolf einer Familie aus Triebswetter, in der schon vier Generationen vor ihm als Baumeister tätig waren. Die Wolfs in Triebswetter bauten Bauernhäuser: jene typischen Banater Langhäuser mit offenem Flur, deren Giebel ab der Mitte des 19. Jahrhunderts Verzierungen annahmen und oben mit barocken Bögen abgeschlossen wurden.
Michael Wolfs Vater, geboren 1874, hatte in Budapest eine Baugewerbeschule besucht und war dort Bauführer, bevor er wieder in das Banat kam. Sein erster Auftrag in Billed, wo er 1899 Magdalene Thöress geheiratet hat, war das Tennersche Haus (240), auch das Wohnhaus der Familie in der Viertgasse Nr. 176 hat er gebaut.
Mathias Wolf erhielt jedoch bald öffentliche Aufträge und baute Schulen, Kirchen, Brücken und Industriebauten. Mit der Gründung eines Bauunternehmens in Temeswar im Jahre 1910 zog die Familie in die Stadt, wo die Firma weitere bedeutende Bauvorhaben durchführte, darunter auch die Banatia.
Der Bautradition seiner Familie verbunden, studierte Michael Wolf Architektur, zunächst in Budapest und anschließend in Stuttgart, wo ihm der neue, damals moderne Baustil vertraut wurde.
Nach dem Abschluss seines Studiums war der junge Architekt Wolf zunächst bei dem bekannten Jugendstilarchtitekten Szekely in Temeswar tätig, bevor er 1931 ein eigenes Architekturbüro eröffnete. Über hundert Bauten hat er entworfen und als Bauleiter errichtet: Wohnhäuser, Fabriken, Hotels und Schulen, darunter der große Komplex der Notre-Dame-Schulschwestern in der Josefstadt.
Auch die Pläne für das Lehrlings- und Gesellenheim und das Deutsche Kulturhaus wurden von ihm entworfen. Architekt Michael Wolf hat mit seinen Entwürfen wesentlich zur Entwicklung und Ausprägung jenes Zwischenkriegs- Baustiles der modernen Wohnhäuser mit Balkonen und Terrassen beigetragen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg führte Architekt Wolf Bauaufträge in Bukarest, am Donau-Schwarzmeer-Kanal, in Konstantza, in der Moldau und im Banater Bergland durch. Dabei konnte er, wie er in seinem Tagebuch schreibt, nicht mehr an die Bautradition seiner Studienzeit und seiner Baupraxis vor dem Krieg anknüpfen. Auf den Großbaustellen der sozialistischen Zeit wurde unter besonders schweren Bedingungen gearbeitet und gebaut.
Nach seiner Aussiedlung 1963 konnte Michael Wolf noch gute sechs Jahre unter besten Bedingungen in einem modernen Entwurfsbüro arbeiten. Siebzigjährig war er dann nochmals als freischaffender Architekt beim Entwurf und Bau des Eigenheimes seines Sohnes tätig, womit er seine berufliche Laufbahn beendete.
In seinen Erinnerungen schreibt er: „Damit ging mein Traumberuf zu Ende, es war - es ist der schönste, den es gibt“. Stolz ist der greise Architekt darauf, dass zwei seiner drei Kinder und mittlerweile auch eine Enkelin in der Baukunst tätig sind und die Bautradition der Wolfschen Familie fortführen.
Architekt Michael Wolf hat seine Lebenserinnerungen in Tagebüchern erfasst, die zusammen mehrere Tausend Seiten haben. Er beschreibt darin sehr spannend und gekonnt nicht nur seinen beruflichen Werdegang und sein Familienleben. In seinen Beschreibungen, die mit Federzeichnungen und Skizzen ausgeschmückt sind, spiegeln sich alle Zeitereignisse aus Politik, Gesellschaft, Kunst und Wirtschaft des 20. Jahrhunderts wider. Sein Schreibstil ist so schön, dass man sich fragen muss, welche Bücher hätte dieser geistreiche Mann geschrieben, wenn er Schriftsteller geworden wäre?
Aus seinem Aufsatz „Es war einmal ...“ geben wir zwei Absätze wieder: „Es war der Anfang unseres Jahrhunderts. Es blühte und gedieh das Banat und die große Monarchie in Frieden und Ordnung. Und die Heide wurde zur Kornkammer der ungarischen Krone, der Fleiß der einstigen schwäbischen Kolonisten hatte reiche Früchte getragen.
Im Frühling summten die Maikäfer, im Sommer flatterten die Schmetterlinge, die wir Pumpeller nannten. Löwenmaul und Petunien blühten im Garten, und auf dem Rauchfang klapperte der Storch. Gut und still sah diese Welt aus, und sie wurde mir zur Heimat....So liefen die Tage hintereinander her wie die Wellen, die der laue Wind über den Weiher am Dorfrand trieb.
Für uns glich einer dem anderen, sie kamen und vergingen – wir zählten sie nicht, wir lebten fernab vom Treiben und der Aufregung der Welt. Ein großer Friede herrschte in unserer Welt der Kindheit.
... Jahrzehnte später: Es kam die Nacht mit dunklem Gesicht; es fiel eine schwarze Wolke über die Heide. Und als sie sich wieder teilte, war die gute alte Welt dahin.
Ich stand als alter Mann am Dorfrand: Dort, wo wir als Kinder herumtollten, gab es keinen Weiher mehr; dort, wo Frösche und Unken einst ihr Konzert hielten, blieb nur eine ausgetrocknete Kaullandschaft übrig, und durch die leeren Höfe und Gärten gingen fremde Menschen.
Die Lerche singt noch ihr altes Lied, aber die Heide schweigt. Und in dieser schweigenden Heide liegt in endlosen Reihen Grab an Grab.“
Michael Wolf starb am 2003 im Alter von 102 Jahren in Geretsried.
Kindheit in der Banater Heide - von Architekt Michael Wolf
Ich wurde in eine äußerst einfache Welt hineingeboren; alles bewegte sich zu Fuß oder mit dem Pferdewagen, und man berechnete die Entfernungen mit diesem natürlichen Maß.
In den Bauernhäusern gab es nur das Petroleumlicht, und zu Weihnachten stapfte man um Mitternacht mit der Laterne über den festgefrorenen Schnee zur Christmette, wo der Kantorlehrer sich an der Orgel alle Mühe gab, seine Tonart mit der des Kirchenchores in Einklang zu bringen.
Die Welt schien mir unendlich weit, und alles war so groß! Wir erfuhren wenig vom Geschehen draußen, jenseits des Dorfes und seiner Grenzen, dafür hörten wir die Geschichten über die eigene Familie.
Die ersten aus der Wolf-Familie waren aus Würzburg ins Banat gekommen und haben sich in Triebswetter niedergelassen. Hier heirateten meine Eltern, doch bald zogen sie nach Billed, woher die Mutter stammte. So kam es, daß ich dort geboren wurde. Es war am 10. Januar 1901, an einem Donnerstag um vier Uhr früh.
Als mein Pate, der Tischlermeister Michael Wolf aus Triebswetter, zur Taufe kam, streckte er mich „zwecks Abhärtung“ zum Fenster hinaus. Das nützte mir aber im Leben nicht viel; ich fror später oft in meinen ungeheizten Studentenbuden und in den Baracken auf den Bauplätzen.
Ein Jahr später zogen die Eltern in ihr neues Haus, das sie sich in der Viert-Gass gebaut hatten; auf dem Torpfeiler war eine Steintafel angebracht „Mathias Wolf, dipl. Baumeister - Wolf Mátyás, okl. épitömester“. Von da aus führte er seine Bauten in vielen Gemeinden des Banats aus.
1903 kam meine Schwester zur Welt, man taufte sie Katharina Rosalia und nannte sie Rózsi. In diesem Jahr wurde ich zum ersten Mal fotografiert, und meine Mutter legte ihr schwäbisches Gewand für immer ab, denn sie hatte beschlossen, „herrisch“ zu werden.
1905 kam ich in den Kindergarten, in die „Ovoda“.
Fast täglich besuchten meine Mutter und wir Kinder die Thöresz-Großmutter.
Im Herbst „patschte“ sie uns Kukuruz auf dem offenen Herd, und immer fand man im Schubladkasten ein Stück vom Zuckerhut.
Im Winter brutzelten im Backrohr des gemauerten Ofens stets Äpfel für uns.
Auf der Ofenbank
Oft saß ich auf der Ofenbank und sah der kreisenden Spindel zu, während die Großmutter von früher erzählte, manchmal von der 1848er Revolution.
Sie sang auch Lieder wie die ergreifende Ballade von einer Mutter, die ihren auf dem Schlachtfeld verwundeten Sohn in einem Kloster findet: Leise tönt die Abendglocke, die Natur sie geht zur Ruh...
Ein Hauch von Romantik wehte durch diese Lieder. Und ich weiß noch, in der Zeit des ersten Weltkrieges, da gingen sie den Frauen so nahe, da haben sie immer geweint - ihre Männer waren ja an der Front. Wir sind in diesen Jahren ohne Väter aufgewachsen. Vorher aber, da war die Welt noch schön, da gab es so manches große Ereignis für uns Kinder auf dem Dorf.
Es muß 1906 gewesen sein, da kehrte ein Amerika-Auswanderer, vom Heimweh getrieben, nach Billed zurück und brachte ein Grammophon mit. Das erste im Dorf.
Vis-a-vis von uns hat der Frick Hans gewohnt, und dort versammelte sich die ganze Nachbarschaft zur Vorführung. Das Instrument stand auf dem Schubladkasten.
Der „Amerikaner“ kam, tat eine schwarze Walze darauf, und es begann ein leises Rauschen, Kratzen, und bald darauf kamen auch bellende Töne aus dem Trichter. Wir Kinder haben konstatiert, das muß ein Schwindel sein.
Ich habe das Geheimnis im Trichter vermutet, aber der Frick Hansi hat behauptet: „lm Kaschte sitzt e Hund. Der bellt! Aso sicher, dort bellt doch e Hund: Haudujudu!“ Das rollende Englisch hat für uns so geklungen.
Am 19. April 1910 waren wir Kinder wieder einmal bei einer Freundin meiner Mutter, bei Frau Steiner aus Stockholm, der Gattin des Kapellmeisters Lambert Steiner, der mit seiner Banater Knabenkapelle die Großstädte der Welt bereiste.
Es gab Schokoladekaffee mit Sahne und Gugelhupf, Feigen, Datteln und Orangen, und als Höhepunkt gab es auch wieder eine Laterna-Magica-Vorführung.
Während der Vorführung stürzte ihr Sohn Pirje ins Zimmer und rief: „Ein Komet!“ Und wir sahen am Himmel den Halley-Kometen. Es wurde viel über die Erscheinung gesprochen, und manche prophezeiten den Weltuntergang.
Auch in Triebswetter gab es eine Welt, wo der Himmel hoch und schön war, wo ich mit den Jungen durch die Gärten rannte. Dort war nirgends ein Zaun. Und wir sind auch mit auf die Felder gefahren, und auf die schönsten Melonen hab ich immer meine Initialen geschrieben, und die hab ich dann auch gekriegt. Eine schöne Zeit.
Ostern mit der Rätsch
Zu Ostern gingen wir dort auf die „Rätsch“, ein Brauch, den der Pfarrer organisierte. Die Glocken waren in diesen Tagen verstummt, und in jeder Gasse liefen vier Jungen mit der hölzernen Ratsche von Haus zu Haus, machten Lärm und riefen ihren Spruch ins Haus. Bis Mittag hatten wir Hunderte Eier und ein schönes Taschengeld beisammen.
Zu Ostern 1909 wurde im „Trompeter“ in Billed eine „kinomatografische Vorstellung“ gegeben: „Das Leben und Leiden Jesus Christus“. Eintritt: zwei Kreuzer oder zehn Kolben Kukuruz.
Letzteres war für uns kein Problem, und so sah ich mir die Sache mit Weber Jozsi zweimal an. Der Film lief zehn Minuten und riß in dieser Zeit fünfmal. Die Figuren bewegten sich sehr schnell; es war ein wahres Rennen mit dem Kreuz auf den Golgotha.
Im Sommer sollte ich zum ersten Mal in die Fremde; mit fünf Schwabenjungen aus Billed und meinem Cousin aus Triebswetter fuhren wir nach Makó, Ungarisch lernen.
Bis zur vierten Klasse war ich jeden Sommer in Szegedin oder in Makó, wo wir mit einem Direktorlehrer Ungarisch lernten.
In der Billeder Schule lernten wir die ungarische Geschichte. Der Lehrer fragte uns: „Ist es wichtig oder notwendig, die Geschichte unserer Vorväter zu kennen?“ Und wir antworteten: „Es ist nicht nur wichtig, sondern auch notwendig, die Geschichte seiner Vorväter zu kennen, denn aus der Vergangenheit seiner Nation lernt man die Tugenden seiner Vorväter kennen.“ Und so weiter.
So lernten wir Schwabenkinder von den Tugenden und Fehlern der Vorväter Bendeguz, Töhötöm, Álmos und Árpád.
Die Nibelungen blieben uns so unbekannt wie die Geschichte unserer Vorfahren am Rhein, die ihre alte Heimat verließen und ins Banat kamen. Aber das alles begriffen wir damals noch nicht.
Die Jahre vergingen, wir merkten es nicht. Aber manches Ereignis aus dieser Zeit hielt ich in meinem Notizbuch fest. Das hatte ich von meinem Vater bekommen, als ich sechs Jahre alt war.
Ich habe da zuerst Aufzeichnungen gemacht über das Wetter: Heute regnet es, und ähnliches. Aber auch Biographisches.
Mein Vater hatte mir gesagt, ich solle alles über mein Leben aufschreiben, und ich bin natürlich auch zurückgegangen bis zu meinem Geburtstag und habe notiert, was man mir erzählt hat.
Im November 1910 erschien ein großer Möbelwagen und eine Dreschlokomotive vor dem Haus, die den Möbelwagen durch die aufgeweichten Straßen bis zur geschotterten Landstraße zog.
Das Haus in Billed wurde verkauft. Ich ließ die Kameraden der frühen Kindheit zurück, meinen Dackel aber nahm ich mit, irgendwohin, wo alles wieder beginnen mußte.
Mit der Übersiedlung nach Temeswar begann ein neuer Abschnitt im Leben des Dorfjungen.
Viele sind inzwischen aus den Dörfern des Banats weggezogen. Und heute, da der Halleysche Komet wieder zu sehen war, lebt keiner von den Nachkommen des alten Jakob Thöresz mehr in Billed, und so steht es auch mit den Wolfs in Triebswetter. Sie sind weit verstreut in alle Winde, und viele, viele sind tot.
(BH 1998)
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